Zu lernen damit zu leben…

…ist nicht so leicht wie es sich anhört. Aufgrund der Tatsache, dass die Anämie schon seit dem 25.01.2021 besteht und bisher keine feste Diagnose bekannt ist, wurde auch meine Psyche tierisch davon runtergezogen. Du kannst dir vielleicht im Ansatz vorstellen, was mit dir so eine Situation macht. Dir geht es nicht gut und niemand kann dir helfen. Du wirst nur durch engmaschige Bluttransfusionen am Leben gehalten – mehr versuchen die Ärzte nicht. Dein komplettes Leben ist von der Krankheit bestimmt. Sie dominiert dich. Sie entscheidet was du tun kannst und was nicht. Ich würde lügen wenn ich sagen würde, dass es mir leicht gefallen ist, das Steuer an den neuen „Fahrer“ abgegeben zu haben. Doch ist das überhaupt so richtig?

—NEIN!—

Ist es definitiv nicht! Es hat sehr lange gedauert, bis ich dahin gekommen bin zu merken, dass ich nicht von der Krankheit dominiert werden möchte! Ich will nicht, dass sie über mein komplettes Leben bestimmt! Die Krankheit soll wenn überhaupt MIT mir zusammen leben aber ICH gebe weiter den Ton an! Der Weg dahin war nicht einfach, deshalb schreibe ich dir heute diesen Beitrag zum Thema Krankheitsverarbeitung und Akzeptanz…


Okay, okay, nun mal langsam. Wie schafft man es denn bitte in so einer Situation die Zügel in der Hand zu behalten um selbst das Tempo vorzugeben? Um dir zu verdeutlichen, was für Gedanken und Gefühle im Zusammenhang mit der unbekannten Diagnose / Krankheit im Laufe der Zeit Einzug gehalten haben, versuche ich dir diese erst einmal darzulegen (für die eher körperlichen Aspekte empfehle ich dir den Beitrag Anämie):

  • Trauer, Wut, Frust

Diese drei Emotionen brauchen denke ich kaum Erklärung. Du wirst dir bestimmt gut vorstellen können was ich damit meine. Es ist frustrierend Dinge nicht mehr so machen zu können wie gewohnt. Treppensteigen, Spazieren gehen, Einkaufen, Duschen – Tätigkeiten von früher sind nicht mehr so wie sonst möglich… Ich vergleiche mich oft mit meinem gesunden Zustand oder mit anderen Menschen ohne Einschränkungen. Dadurch entsteht indirekt ein Druck mithalten zu müssen, bzw. mit falschem Ehrgeiz über die eigenen Grenzen hinauszugehen. Da wird man schnell wütend auf sich selbst, auf die Krankheit. Auch bin ich oft sehr traurig aufgrund meiner Situation, wegen der Erkrankung, wegen der Frustration, weil ich Sachen nicht mehr so ausüben kann wie sonst. Klar kommen dann auch so Gedanken wie ‚Warum ich?‘ – also das Gefühl bestraft zu sein oder auch das Gefühl irgendwie Schuld an der Situation zu haben. Nüchtern betrachtet ist das absurd, aber bei dem durch die Depression vorhandenen Nährboden, tragen solche Gedanken dennoch schnell Früchte. Glücklicherweise bin ich sehr reflektiert und erkenne dann doch meist schnell, dass diese einkehrenden Gedanken eben totaler Quatsch sind.

  • Lethargie, Not-Modus, Durchhalten

Es gibt Phasen, in denen ich mich vom Kopf her so runterschraube, dass ich in so eine Art Stromspar-Modus gerate. Ich kann das sehr schwer beschreiben, ich versuche möglichst schnell, möglichst viel Zeit rum zu bekommen, ohne großen Aufwand. Meist bin ich dann sehr abwesend und mir ist echt egal wie und womit ich mich beschäftige. Irgendwas auf mich einrieseln lassen ohne aktiv denken zu müssen… Konzentrieren ist dann eh nicht drin. An schlechten Tagen ist das so eine Art der Verdrängung bzw. sich nicht aktiv mit der Erkrankung beschäftigen zu müssen. Im Zweifel einfach extrem viel schlafen!

  • Kraftlos, am Ende, Hoffnungslosigkeit

⚠️⚠️⚠️ TRIGGER WARNUNG: SUIZIDALITÄT ⚠️⚠️⚠️ <– Lies bitte erst beim nächsten gelben Marker weiter

Nun muss ich leider ein extrem schweres Thema anschneiden. Außerhalb der Therapie habe ich da noch nie öffentlich drüber gesprochen. Da die Situation zwischenzeitlich so aussah, dass keinerlei Anstrengungen in Sachen Diagnostik / Ursachenforschung mehr unternommen werden, mein Zustand sogar eher schlechter als besser wurde, schwand auch irgendwann die Hoffnung. Ständig durchhalten zu müssen und Kraft aufzuwenden um das Ganze irgendwie durchzustehen, zermürbt einen auf Dauer. ‚ICH KANN NICHT MEHR!‘ – So stellten sich dann irgendwann auch oft diese echt negativen Gedanken ein. Ich wollte einfach, dass es auf irgendeine Weise zu Ende ist. Entweder im (unwahrscheinlichen)Guten oder im endgültigen Sinne. Ich war immer mal wieder mit enormen lebensüberdrüssigen Gedanken konfrontiert. Zur Beruhigung: Es war nie mit konkreten Absichten oder Versuchen verbunden. Eher der Wunsch nach Frieden und Ruhe, nicht mehr mit der Krankheit konfrontiert sein zu müssen. Diese Gedanken / dieser Wunsch kam sehr unregelmäßig aber doch häufig auf. Meist in Phasen wo es körperlich gerade eher schlechter war.

Bist du oder ist jemand aus deinem Umfeld akut betroffen? Hier ein Link für Hilfe: https://www.suizidprophylaxe.de/hilfsangebote/hilfsangebote/

⚠️⚠️⚠️ TRIGGER WARNUNG ENDE ⚠️⚠️⚠️

  • Rückzug

Da ich aufgrund meiner Einschränkungen kaum noch Freude an Unternehmungen empfunden habe, zog ich mich immer mehr zurück. Verabredungen habe ich abgesagt oder habe mich von vornherein mit irgendwelchen Ausreden gedrückt. Ich wollte auch nicht, dass immer jeder Rücksicht nimmt und mich behandelt wie ein rohes Ei, nicht immer aufgrund der Erkrankung im Mittelpunkt stehen. ‚Nur keine Schwäche zeigen!‘ – Also zeig ich mich lieber gar nicht…

  • Ungewissheit, Wunsch nach Diagnose oder im Optimalfall Besserung

Die Ungewissheit, wie es weitergeht, ist sehr belastend! ‚Bleibt es jetzt wenigstens so wie es ist? Wird es noch schlimmer?‘ Ein Fünkchen Hoffnung besteht weiterhin. Der Wunsch und die Hoffnung doch noch eine gesicherte Diagnose genannt zu bekommen. Denn dann kann die Ursache angegangen werden, dann besteht die Aussicht auf Besserung. Ich traue mich das fast nicht zu schreiben, bitte verurteilt mich nicht für den folgenden Satz: Ich habe mir gewünscht Leukämie, also Blutkrebs zu haben. – Dann hätte ich gewusst woran ich bin. Der Feind hätte einen Namen, ich würde wissen wogegen ich kämpfen muss! Nicht dieser neblige, unbekannte Feind, der nicht wirklich sein Gesicht zeigt und darum nicht greifbar für mich ist.


„Wir dürfen jetzt nur nicht den Sand in den Kopf stecken“

Lothar Matthäus

‚Was also tun? Wie bekomme ich einen besseren Umgang mit meiner Situation hin?‘ – Ich wünschte, ich könnte dir jetzt ein geheimes Patentrezept geben oder einmal mit dem Finger schnipsen. Doch die Antwort ist in meinem Fall die folgende: THERAPIE

Ohne professionelle psychologische Hilfe wäre ich nicht da wo ich heute bin. Es waren mehrere Aufenthalte in der Tagesklinik und ambulante Psychotherapie nötig, um bei diesem Thema den Blickwinkel zu erlernen den ich heute habe.

Heute habe ich mir vorgenommen das Beste aus der Situation zu machen. Möglichst aktiv am Leben teilzuhaben. Ich habe akzeptiert, dass ich längere Regenerationsphasen habe nach Unternehmungen. Auch meine körperlichen Grenzen kann ich gut einschätzen.

Kompromisse ermöglichen mir wieder entspannter zu sein. Beispielsweise beim letzten Festival eine Ferienwohnung zu mieten statt im Zelt schlafen zu müssen. So hatte ich mehr Ruhe, einen Rückzugsort. Das hat es mir ermöglicht das Wochenende sehr zu genießen.

Ich vergleiche mich nicht mehr mit anderen oder mit meinem gesunden Zustand. Wenn ich meine Situation berücksichtige und im Hinterkopf habe ist es klar, dass einige Sachen nicht mehr so gehen können und das darf so sein!

Ich darf Schwäche zeigen! Und es darf auch Tage geben, an denen ich das Bett nur für die notwendige Körperhygiene und die Nahrungsaufnahme verlasse. Es kommen auch wieder bessere Tage.

Ich habe gelernt mit meinem Trauma aufgrund der unzähligen Ereignisse im Zusammenhang mit der Erkrankung, mit Untersuchungen, mit deren Folgen umzugehen. Mir wurden Techniken beigebracht die es mir ermöglichen damit besser klarzukommen bzw. wenn nötig böse Gedanken schnell wegschieben zu können (Übung „sicherer Ort“).

Es fiel mir schwer zu sagen: ‚Ich bin krank.‘ – besonders unmittelbar nach Transfusionen, da diese einen Energieschub, einen Auftrieb, bzw. kurzzeitige Linderung verschafft haben.

Ich habe eine Familie und Freunde die mich so akzeptieren und mir immer zur Seite stehen, egal wie es mir gerade geht! Dafür bin ich so enorm dankbar! Das ist so viel Wert!

Die Anämie ist zumindest (hoffentlich nur) vorläufig ein Teil von mir. Kein Feind. Eher wie ein Mitbewohner dem man ständig hinterher räumt 😀

Ich versuche einfach jeden Tag bestmöglich zu genießen und nicht zu weit in die Zukunft zu schauen. Diese kann ich eh nicht beeinflussen und muss sie nehmen wie sie kommt!


Du siehst, eine wirklich Beschreibung wie genau ich an den Punkt gekommen bin, an dem ich heute stehe, kann ich dir gar nicht so wirklich geben. Dann hätte ich vermutlich den Beruf verfehlt und wäre ein guter Psychologe… Ein wichtiger Punkt ist radikale Akzeptanz – es ist, wie es ist! Außerdem achte ich viel mehr auf mich und meine eigenen Bedürfnisse. Ich habe das Gefühl einen viel besseren Zugang zu mir selbst bekommen zu haben. Die Gesundheit ist das höchste Gut was wir haben, das habe ich auch gelernt.

Was würdest du anders machen wenn du in meiner Situation wärst? Hast du Fragen zu diesem Thema? Oder generell Fragen an mich? Ich sammle Fragen für einen zukünftigen Q&A Beitrag! Schreib mir doch gern einen Kommentar oder eine Nachricht!